Migrationsmythen: Abschreckung und Abschottung können Migration nicht begrenzen – Gastbeitrag von Dr. Judith Kohlenberger
November 3, 2023
Dr. Judith Kohlenberger ist promovierte Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin. Seit Herbst 2015 arbeitet sie zu Fluchtmigration und Integration, unter anderem im Rahmen des Displaced Persons in Austria Survey (DiPAS), eine der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung 2015, die mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 ausgezeichnet wurde. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht, darunter PLOS One, Refugee Survey Quarterly und Health Policy.
Hundertprozentige Migrationssteuerung, selbst durch besonders restriktive oder vermeintlich abschreckende Maßnahmen, ist nicht möglich.
In der Forschung sind die „unintendierten Substitionseffekte“ von Migrationssteuerung, vor allem durch restriktive Einwanderungs- und Asylpolitik zur Abschreckung von Einwanderungswilligen, mittlerweile gut belegt.[1] Mehr Restriktion und Kontrolle führen nicht zu weniger, sondern zu mehr Illegalität im Land. Je strenger die Einwanderungspolitik eines Landes, desto eher wollen (irreguläre) Migrant*innen für immer bleiben.[2]
So zeigen der Migrationsforscher Mathias Czaika und der Politikwissenschaftler Mogens Hobolth, dass mehr Asyl-Ablehnungen zwar die Zahl der (künftigen) Asylanträge verringern, aber die Zahl der irregulären Migrant*innen on territory, also der im Inland aufhältigen Menschen ohne gültigen Titel, erhöhen.[3] Als mit dem Schengener Abkommen Visabestimmungen der EU für die Außengrenze eingeführt wurden, stiegen die irregulären Ankünfte und permanenten Niederlassungen von marokkanischen Saison- und Gastarbeiter*innen, die davor frei nach Spanien einwandern und somit auch leichter zurückkehren konnten. Dadurch wuchs die marokkanische Bevölkerung in Spanien innerhalb kürzester Zeit auf über 700.000 Personen an.[4]
Zusätzlich bedeutet mehr Überwachung auch, dass Menschen auf immer gefährlichere Routen und Instrumente zurückgreifen, oder aber, weil sie selbst nicht über dieses Wissen und die Möglichkeiten verfügen, auf die Hilfe von Schleppern zurückgreifen. In vielen Grenzgebieten kann man eine so simple wie gefährliche Faustregel beobachten: Je bewachter die Grenze und je schwieriger der Übergang, desto kreativer werden Grenzgänger*innen und Schlepper. „Zeig’ mir einen 50 Fuß hohen Zaun, und ich zeige dir eine 51 Fuß hohe Leiter“, sagte die ehemalige Gouverneurin des Bundestaats Arizona Janet Napolitano, die unter Barack Obama zur Secretary for Homeland Security wurde.[5] Als man in den Nullerjahren einen befestigten Zaun an der amerikanisch-mexikanischen Grenze errichtete, wurde unversehens von Migrant*innen berichtet, die Tunnel unter Grenzzäunen durchbuddelten.[6] Doch die räumliche Umlenkung geht nicht nur mit kreativeren, sondern vor allem auch mit immer riskanteren Manövern einher. Der Frachtenzug La Bestia (zu Deutsch: „Die Bestie“) ist berühmt-berüchtigt für den Transport von Migrant*innen aus Lateinamerika und sorgt jedes Jahr für hunderte Todesopfer und zahlreiche Verletzte. Sie springen auf fahrende Züge auf, fallen vor Erschöpfung von Waggons oder landen auf den Gleisen – das alles nur, um den zahlreichen Checkpoints und Deportationszentren zu entgehen.
Diese räumliche Umlenkung ist einer von mehreren „Substitutionseffekten“ bei restriktiver Asyl- und Einwanderungspolitik. Werden auf der einen Seite Kontrollen verstärkt oder physische wie symbolische Mauern errichtet, kommt es an anderen Stellen zu einem Anstieg von Grenzübertritten, also einer sogenannten Umlenkung der Migrationsbewegung.
Diese geographische Verlagerung von Ankünften konnte man in den letzten Monaten auch entlang der Westbalkanroute beobachten. Nachdem der Landweg aufgrund von systematisch stattfindenden Pushbacks und verstärkten Grenzkontrollen, denen eine „abschreckende“ Wirkung zugeschrieben wird, immer unpassierbarer wurde, verlagerten sich die Fluchtrouten auf den gefährlicheren Seeweg, vor allem auf die zentrale Mittelmeerroute. Sie gilt als die tödlichste Fluchtroute der Welt.
Der angestrebte EU-Deal mit Tunesien wiederum offenbarte eine zeitliche Umlenkung bzw. Verlagerung von Ankünften. In einer Art „Jetzt-oder-Nie“-Schub versuchen viele Migrant:innen, solange es die tunesisches Küstenwache und das gute Wetter noch erlaubten, die Überfahrt nach Lampedusa. Dieser intertemporale Effekt tritt meist dann auf, wenn ein Staat bzw. eine Staatengemeinschaft „strengere“ Einwanderungsbestimmungen oder mehr Grenzkontrollen ankündigt. Diese aber haben, solange sie nicht in Kraft sind, nicht vorrangig abschreckende Wirkung, sondern bewirken häufig das Gegenteil. Oft kommt es unmittelbar zu einem sprunghafter Anstieg von Ankünften bzw. von Visa- oder Asylanträgen, bevor diese gar nicht möglich sein werden.
Somit funktioniert die „abschreckende“ Asylpolitik mancher Staaten nur, so lange Flucht- und Migrationsbewegungen, deren Ursachen in den Herkunftsländern davon ja unberührt bleiben, auf andere Routen oder auf andere Staaten umgelenkt werden können. Das ist das Fundament des seit Jahren laufenden Unterbietungswettbewerbs auf europäischer Ebene: Einzelne Mitgliedstaaten, darunter Ungarn, Polen und Griechenland, entziehen sich ihrer Asyl-Verantwortlichkeit, indem sie eine höchst restriktive Migrationspolitik fahren, Aufnahmestandards für Geflüchtete nach unten nivellieren oder das Asylrecht gleich ganz aussetzen. In der Folge verteilt sich der Druck immer ungleicher auf die verbleibenden Mitgliedsstaaten, die (noch) EU-rechtliche Verpflichtungen einhalten und Schutz gewähren, allen voran Deutschland und Österreich. Das vielgelobte dänische Modell funktioniert (für Dänemark) nur, weil es in unmittelbarer Nachbarschaft Länder gibt, die weiterhin Migranten aufnehmen. Ankunftszahlen werde dadurch umgelenkt, was zu Lasten der ohnehin bröckelnden europäischen Solidarität geht.
Die politische Losung, dass restriktive Migrationspolitik und -rhetorik Menschen abschreckt, sich überhaupt auf den Weg nach Europa zu machen, ist in dieser Form also nicht haltbar. In vielen Kontexten führt mehr Fortifizierung, Grenzkontrolle und Versicherheitlichung nur zu noch mehr Toten, wenn nämlich Migrant*innen auf immer gefährlichere Wege oder weitere Distanzen ausweichen müssen, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür die (kostspielige) Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen, ungleich höher wird. Paramilitärische Gruppen und selbsternannte „Bürgerwehren“ fühlen sich durch die von Politiker*innen vorgegebene „harte Kante“ in der Migrationspolitik auch ermächtigt, den Grenzschutz in ihre eigenen Hände zu nehmen,[7] wodurch Migrant*innen immer weitläufiger ausweichen müssen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass das populäre Versprechen zahlreicher europäischer Regierungschef*innen und Innenminister*innen, durch Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex, das Schließen von Routen oder Abkommen mit Drittstaaten die Ankunftszahlen geflüchteter Menschen in Europa zu senken, nicht eingelöst werden konnte. Acht Jahre nach dem Rekordjahr 2015 zeigt sich immer deutlicher, dass mit dem präferierten europäischen Rezept für „die Flüchtlingsfrage“, nämlich mit Abschottung, Abschreckung, Auslagerung, weder Ankünfte nachhaltig reduziert noch Leid und Elend an Europas Außengrenzen beendet werden konnten. Höchstens wurden damit diese und weitere migrationsbedingte Problemlagen kurzfristig zeitlich und räumlich verlagert, langfristig aber immer größer und drängender.
[1] Czaika, Mathias, und Hein de Haas. „The Effectiveness of Immigration Policies.“ Population and Development Review, Vol. 39, Nr. 3, September 2013, S. 487–508. <www.jstor.org/stable/23655336>.
[2] Kohlenberger, Judith. Das Fluchtparadox: Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen. Wien: Kremayr & Scheriau, 2022.
[3] Czaika, Mathias, und Mogens Hobolth. „Do Restrictive Asylum and Visa Policies Increase Irregular Migration into Europe?“ European Union Politics, Vol. 17, Nr. 3, September 2016, S. 345–65. <https://doi.org/10.1177/1465116516633299>.
[4] De Haas, Hein. „Myths of Migration: Much of What We Think We Know Is Wrong.“ Persönlicher Blog von Hein de Haas, 29. März 2017. <http://heindehaas.blogspot.com/2017/03/myths-of-migration-much-of-what-we.html> [letzter Zugriff 30.12.2021].
[5] Lacey, Marc. „Arizona Officials, Fed Up With U.S. Efforts, Seek Donations to Build Border Fence.“ The New York Times, 19. Juli 2011. <https://www.nytimes.com/2011/07/20/us/20border.html> [letzter Zugriff 28.4.2022].
[6] Pitzke, Marc. „Wüstenmonument des Scheiterns.“ Der Spiegel, 2011.
[7] Vallet, Élisabeth. „Border Walls Are Ineffective, Costly and Fatal — but We Keep Building Them.“ The Conversation, 4. Juli 2017. <https://theconversation.com/border-walls-are-ineffective-costly-and-fatal-but-we-keep-building-them-80116> [letzter Zugriff 30.12.2021].
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