Migrationsmythen: Die meisten kommen nicht zu uns – Gastbeitrag von Tobias Gehring
Oktober 25, 2023
Tobias Gehring hat im Fach Soziologie mit einer Dissertation zu Diskursen über Flüchtlinge in ugandischen Medien promoviert. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Bielefeld und Mitglied im Netzwerk Fluchtforschung. Weitere Texte zu Fluchtmigration aus seiner Feder erscheinen u. a. im MiGAZIN.
In Deutschland leben viele Flüchtlinge. Diese unbestreitbare Tatsache belegen auch Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR (2023a: 21). Laut diesen zählt Deutschland zu den zehn Ländern auf der Welt, die die meisten Flüchtlinge beherbergen. Doch sieht man sich diese „Top Ten“ einmal genauer an, fallen einem außerdem zahlreiche Staaten aus dem globalen Süden ins Auge: die Türkei, der Iran und Pakistan in Asien, Kolumbien und Peru in Lateinamerika, Uganda und der Sudan in Afrika (ebd.). Auch dort finden Millionen Menschen Schutz und Zuflucht.
Auch dort? Nein: vor allem dort! Drei von vier Flüchtlingen auf der Welt leben in Ländern des globalen Südens (ebd.: 2). Zu diesen zählen 25 Millionen Flüchtlinge allein im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas. Zum Vergleich: In ganz Europa leben insgesamt 17 Millionen Flüchtlinge – 8 Millionen weniger (ebd.: 11).
Nicht Deutschland, nicht Europa sind also das Hauptziel internationaler Fluchtbewegungen. Sondern Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika. Ein prägnantes Beispiel ist der Südsudan: Wegen des Bürgerkrieges, der dort vor zehn Jahren ausbrach, sind über 2 Millionen Menschen in andere Länder geflüchtet. Und zwar fast ausschließlich in afrikanische Nachbarländer wie Uganda, den Sudan, Kenia und Äthiopien (UNHCR 2023b). In Deutschland leben hingegen nahezu keine südsudanesischen Flüchtlinge (UNHCR o. J.).
Ähnlich verhält es sich im Fall der Rohingya aus Myanmar. Aufgrund gewaltsamer Verfolgung haben über eine Million Angehörige dieser ethnischen Minderheit das Land verlassen. Schutz finden sie vor allem in Bangladesch. Dort befindet sich Kutupalong, das größte Flüchtlingslager der Welt mit rund 600.000 Bewohnern (UNHCR 2022). Und auch die weiteren Rohingya-Flüchtlinge bleiben fast immer im südlichen Asien, in Ländern wie Indien und Thailand (USA for UNHCR 2023).
Nicht nur diese Beispiele zeigen: Menschen sind zuallererst innerhalb des globalen Südens auf der Flucht. Es gibt keine „neue Völkerwanderung“ nach Europa. Gegenwärtige Fluchtmigration mit solchen Begriffen zu beschreiben, ist nicht nur aufgrund des zumeist negativ gesehenen historischen Vorbildes problematisch. Sondern es ist auch und vor allem eines: eine eklatante Verkennung der Faktenlage.
Literatur
UNHCR (2023a): Global Trends: Forced Displacement in 2022. Genf, UNHCR.
Related News
Wir werden aktiv, wo Staaten versagen. Aber nur mit deiner Unterstützung!
Mit unserer Arbeit üben wir Druck auf die deutsche Politik aus, Verantwortung zu übernehmen und endlich etwas zu ändern! Eure Spenden werden für die #LeaveNoOneBehind-Kampagne eingesetzt: Für unsere eigenen Projekte, sowie für geförderte Projekte und Organisationen, die dringend notwendige Unterstützung an den EU-Außengrenzen und auf den Fluchtrouten leisten.