Übersicht der aktuellen Debatte zur Reform des EU-Asylsystems
Juni 15, 2023
Im Folgenden soll zum Einen auf die aktuellen Argumente für und gegen die Einigung im Rat zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) eingegangen werden. Zum Anderen sollen die weiteren Schritte, die wesentlichen Unterschiede zwischen Rats- und Europaparlaments-Position in den beiden zentralen Verordnungen erläutert werden, ein alternativer Weg erklärt und die inhaltlichen Kernpunkte des GEAS im Rahmen eines FAQ erläutert werden.
Wie geht es jetzt weiter?
Das Trilog-Verfahren
Bis das Reformpaket final verabschiedet werden kann, müssen sich Parlament und Rat noch im sogenannten Trilogverfahren einigen. Das Parlament und der Rat haben inzwischen fast alle Verhandlungsmandate. Eigentlich war vereinbart, dass alle Trilogergebnisse im nächsten Februar vorliegen. Das ist aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich.
Erstens wird die spanische Ratspräsidentschaft durch die Neuwahlen in Spanien gelähmt sein.
Zweitens wird dadurch im Ergebnis ein riesiger Druck auf der belgischen Ratspräsidentschaft lasten, denn es liegen noch mehr als 200 Rechtsakte auf dem Tisch, die bis März 2024 fertig verhandelt werden müssen.
Drittens ist es unrealistisch, dass in dieser kurzen Zeit die teils unvereinbaren Positionen ausverhandelt werden.
Und viertens ist der Verhandlungsspielraum sehr gering, da die Mehrheit aufgrund diverser roter Linien im Rat, die wiederum für einen relevanten Teil des EP sehr wichtige Punkte darstellen.
Eine Einigung vor den EU-Parlamentswahlen auf das Gesamtpaket ist dahingehend nur realistisch, wenn es einen Durchmarsch der Positionen des Rates gibt. Davon ist aktuell aber zumindest in dieser kurzen Zeit nicht auszugehen.
Wie könnte es besser weitergehen?
Das Gesamtpaket ist, bleibt und wird auch in den Trilogverhandlungen nur von einem kleinen Teil der Verhandelnden gut durchdrungen werden. Statt eine praktikable Lösung zu finden, werden die Akteure wohl ein Geben-und-Nehmen veranstalten, bei dem der Rat wenig Änderungsspielraum hat, wenn das Trilogergebnis noch eine Mehrheit im Rat haben sollen. Wenn das Europäische Parlament (EP) sich relevant durchsetzt, gibt es wohl keine Mehrheit im Rat. Wenn der Rat sich durchsetzt, sind die EP-Mehrheiten unklar, aber zumindest gibt es keine gute Reform. Das hängt auch damit zusammen, dass diese Reform zeitlich ungünstig in der Hochphase der größten Fluchtbewegung seit dem zweiten Weltkrieg stattfindet. Durch Pandemie, Inflation und Krieg in Europa haben die Populisten ebenso Aufwind wie durch die hektische Debatte um Migrationspolitik.
In dieser Zeit eine Gesamtreform zu beschließen wird schwer, eine gute Gesamtreform zu beschließen unmöglich. Deswegen sollte der von Frankreich avisierte schrittweise Ansatz wiederbelebt werden, bei dem im ersten Schritt die Registrierung an den Außengrenzen und Menschenrechtsmonitoring zusammen mit einem Solidaritätsmechanismus mit freiwilliger Verteilung in verbindlicher Solidarität verhandelt wird. Dafür müssen nur zwei Verordnungen des Pakets verhandelt werden.
Das hätte vier Vorteile:
- Erstens wären die die Verhandlungen überschaubarer und hätten mehr Chancen auf eine vernünftige Lösung.
- Zweitens wäre der notwendige Solidaritätsbeitrag geringer, weil der zusätzliche Aufwand für die Außengrenzstaaten geringer ist. So könnte getestet werden, ob das Grundkonzept „Solidarität und Verantwortung“ funktioniert, denn falls nicht, würde auch das Gesamtkonzept mit deultich größerer Verantwortung für die Außengrenzstaaten nicht funktionieren.
- Drittens wäre das die einzige realistische Chance auf eine Einigung vor den Europaparlamentswahlen und durch die dann folgenden Ratsvorsitze von Polen und Ungarn damit auch vor der Bundestagswahl.
- Viertens könnte die Asylverfahrensverordnung (also die Verordnung, in der beispielsweise die Voraussetzungen für sichere Drittstaaten und sichere Herkunftsstaaten geregelt ist) mindestens bis zu einer umfassenden Folgenabschätzung, aber auch bis zu einer migrationspolitisch ruhigeren Zeit verschoben werden. Für eine sinnvolle EU-Verordnung zur Regelung von Asylverfahren müssten die Asylsysteme weitgehend harmonisiert sein.
Aktuell dient der Entwurf der Asylverfahrensverordnung nicht einer Verbesserung des Status quo, sondern nur einem Großangriff auf das Asylrecht, der hoffentlich abgewehrt werden kann. Die anderen 3 Richtlinien und 4 Verordnungen können jedoch verhandelt und oder beschlossen werden. Dabei ist klar, dass uns nicht alle Punkte gefallen werden, aber das liegt in der Natur der Verhandlungen und Mehrheiten.
Für was sollte man streiten? Geht es nur um den Pakt?
“Der Pakt” wird oft so dargestellt, als wäre der Beschluss zentrale Voraussetzung, um überhaupt etwas an der politischen Realität in der Asylpolitik zu verbessern. Allerdings gibt es ja bereits ein umfassendes Europäisches Asylsystem, das an vielen Stellen richtige Antworten bietet, aber nicht durchgesetzt wird. Was uns in den letzten Jahren als progressive, aber auch als demokratische Parteien insgesamt nicht gelungen ist, ist die pragmatischen Positionen gut zu erklären und hegemonial zu machen. Das ist tragisch, denn die populistischen Positionen bieten keine Lösungen und sorgen dafür, dass der Populismus zunimmt.
Der Erfolg von Rechtspopulisten hängt nicht davon ab, wie viele Geflüchtete kommen, sondern davon, ob es eine Krisenwahrnehmung gibt, die zu lösen, die Demokraten nicht im Stande sind. Deswegen ist es wichtig, Ruhe in die Migrationspolitik bringen, Herausforderungen ernst zu nehmen, aber eben auch keine Panik zu verbreiten.
Unabhängig vom Pakt kann man für demokratische Migrationsabkommen streiten, die die Menschenrechtslage in den Blick nehmen und auch legale Migrationswege fördern. Außerdem ist die Rechtsdurchsetzung in Staaten wie Griechenland oder Kroatien wichtig, denn es ist schlicht unerträglich, wie systematisch inzwischen Geflüchtete an den Außengrenzen misshandelt werden. Auch bei der Seenotrettung könnte kurzfristig etwas verbessert werden, zum Beispiel durch Förderung der zivilen Organisationen durch EU-Kommission oder EU-Mitgliedsstaaten.
Schlussendlich gibt es zu allen Fragen, die sich in der Migrationspolitik gute Konzepte und viele Lehrstühle und wissenschaftliche Beiräte und Verbände, die evidenzbasiert Antworten entwickeln. Es ist schlicht falsch, dass es keine pragmatischen, nachhaltigen Lösungen für die Migration im 21. Jahrhundert gibt. Man muss sie nur sehen und umsetzen wollen.
Welche Punkte werden in den Verhandlungen zentral? Wo unterscheiden sich die Positionierungen?
Es gibt hunderte Punkte in denen sich die Positionen des Parlaments deutlich von denen des Rates unterscheiden. Ohne bereits eine abschließende Bewertung aller zentralen Punkte treffen zu können, ist es wahrscheinlich, dass zentrale Punkte die Frage verbindlicher oder freiwilliger Verteilung unter Bedingungen zentral wird. Das Parlament möchte außerdem keine verbindlichen Grenzverfahren. Kinder unter 12 und ihre Familien sollen laut Parlament ausgenommen werden, der Rat möchte keine Ausnahmen. Die externe Dimension – also Zahlung an Drittstaaten – beim Solidaritätsmechanismus ist eine weitere weitgehend unvereinbare Position. Das Verbindungselement ist im EP-Mandat deutlich stärker als im Rat, außerdem wird sich der Rat weigern, ein starkes Menschenrechtsmonitoring einzuführen. Im Einzelnen:
Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (AMMR)
Europäisches Parlament | Rat der Europäischen Union | ||
1. | Erweiterung der der Familiendefinition | Erweitert auf Geschwister | Erweiterung gestrichen |
2. | obligatorischer SAR-Verteilungsmechanismus | Im Text | Nicht enthalten |
3. | Erstes Land der Einreise | Beibehaltung des Mandats mit einigen Verbesserungen | Im Mandat verbleiben |
4. | Verantwortung (welcher Mitgliedstaat ist zuständig für den Asylantrag) | Leichte Verbesserung der Liste der Kriterien für die Aufteilung der Zuständigkeit auf die Mitgliedstaaten: Erweiterung der Liste der Kriterien und der Definition des Begriffs „familiäre Bindungen“ (eine weit gefasste Definition wird es ermöglichen, dass mehr Personen nach diesen Kriterien versetzt werden, wodurch die Auswirkungen des ersten Zugangskriteriums abgeschwächt werden) | alte Kriterien weitgehend belassen, Ersteinreiseland ist fast immer zuständig.im Mandat gehalten |
5. | Ersteinreise als letztes Kriterium, das nicht für die Ausschiffung im Rahmen von SAR gilt und bis zu 9 Monate lang nicht durchgesetzt wird, wenn ein MS unter Migrationsdruck steht | ||
6. | ein „leichtes Verfahren“ für das Kriterium der familiären Bindung, das die Überstellung von Antragstellern an die zuständigen MS beschleunigt: Es reicht aus, wenn ein MS feststellt, dass eine Person eine solche familiäre Bindung zu einem anderen MS haben könnte, damit sie überstellt wird | Nicht im Mandat enthalten | |
7. | Dublin-Rücküberstellungsfristen / Zuständigkeitsfristen | Senkung der Fristen aus Kommissionsvorschlag | Erhöhung der Fristen aus dem Kommissionsvorschlag, Verdopplung der geltenden Fristen |
8. | Solidarität / Verteilung | Einführung eines neuen Verpflichtenden Verteilmechanismus in einer Verordnung und eines Schnellverfahrens, das nach der Ankunft auf dem Seeweg eingeleitet wird, um die Umsiedlung und gerechte Verteilung der Antragsteller innerhalb der EU zu gewährleisten. | kein verbindlicher Verteilmechanismus |
9. | Neues Büro des EU-Relocation-Koordinators auf unseren Wunsch hin eingerichtet | nicht im Mandat enthalten | |
10. | Externe Dimension | keine Solidarität durch Finanzierung in Drittstaaten möglich, Verbesserter Text im Vergleich zum Vorschlag der KOM und zum Berichtsentwurf des Berichterstatters. „Schadensbegrenzung“ in Bezug auf Verweise auf Partnerschaften mit Drittländern (verkürzte Formulierung, die sich auf das beschränkt, was bereits im EU-Recht existiert) | Ausweitung der externen Dimension mit Finanzierungsprojekten im Rahmen der Solidarität |
11. | Direkte Verweise auf Visumspflicht, Entwicklungshilfe und Handelskonditionalität wurden vollständig gestrichen; | Möchte Konditionalität erwähnen | |
12. | Kapazitätsaufbau in Drittländern eingeschränkt (auf freiwilliger Basis, nur bevor Druck entsteht, Grundrechtsgarantien hinzugefügt, wirkt sich nicht auf/verringert nicht die obligatorischen Umsiedlungsbeiträge) | Im Mandat nicht eingeschränkt | |
13. | Dublin-Verrechnungen (Offsets) | Nicht im Mandat enthalten | Im Rahmen des Mandats enthalten |
14. | Definition von “Migrationsdruck” | deklaratorisch, aber beschränkt auf Ankünfte und Aufnahmekapazität | Umfasst auch die Instrumentalisierung in der Definition |
Asylverfahrensverordnung (APR)
15. | Unabhängiger Überwachungsmechanismus | Erweiterung des APR um das umfassende und detaillierte Mandat des Screenings für APR auch anzuwenden | Begrenzt zur Überwachung der Umsetzung des EU-Besitzstandes durch die Kommission, deutliche Beschränkung des vorgeschlagenen Monitorings aus dem Screening |
16. | Grenzverfahren | Nicht obligatorisch ohne Ausnahmen | Obligatorisch für einige Kategorien |
17. | Obligatorisch für Familien von Personen, die für die nationale Sicherheit als bedenklich gelten | ||
18. | Befreiung aller unbegleiteten Minderjährigen und aller Kinder unter 12 Jahren mit Familien; für die Inhaftierung von Kindern gilt die RCD | Ausnahm e für unbegleitete Minderjährige, es sei denn, es geht um die nationale Sicherheit; keine Ausnahme für Kinder | |
RCD in Grenzverfahren mit strengen Regeln für Aufnahmeeinrichtungen und Personal | Angemessenes Fassungsvermögen und Deckel (schlussendlich 4-fache Kapazität jährlich), Überfüllung wird nicht ausgeschlossen | ||
20. | Regeln für sichere Drittstaaten | Strenge Kriterien und begrenzte Anwendung | Erweiterte Anwendungsmöglichkeiten |
21. | Verbindung zwischen Antragsteller und sicherem Drittstaat | Streng und verbindlich, geografische Nähe zum Herkunftsland | Begrenzte Erwartungen mit breiter Auslegungsmöglichkeit für die MS, was eine Verbindung darstellt, Applicant kann freiwillig auf Verbindung verzichten |
22. | Zulässigkeitsverfahren bei der Statusfeststellung | eingeschränkt | erweiterte Möglichkeiten für Mitgliedstaaten |
FAQ zur Kernpunkten der Reform:
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