Samos – Menschliche Abgründe im Schatten der Weltöffentlichkeit: Das “Gefängniscamp” in Zervou

April 11, 2024

Das EU-Parlament hat am 10. April 2024 die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) angenommen – ein dunkler Tag für Europa und die Menschenrechte. Doch Teile dessen, was durch die Reform bald droht, sind längst bittere Realität. So zum Beispiel das „Gefängniscamp“ für ankommende Geflüchtete auf der griechischen Insel Samos.

 

Das Boot trieb mit morbider Trägheit und die Sonne wurde heller am wolkenlosen Himmel. Plötzlich begann der Motor zu stottern. Eigentlich war es keine Überraschung, dass uns das Benzin ausging, aber wir hatten gehofft, es würde nicht geschehen.” (Imad Al Suliman, “Das Jasmin Inferno”,  S. 28)

In seinem Buch “Das Jasmin Inferno – Eine Fluchtgeschichte” erzählt der Autor und Menschenrechtsaktivist Imad Al Suliman die Geschichte von Fouad, einem syrischen Geflüchteten, der nach einer beinahe tödlich endenden Überfahrt mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer auf der griechischen Insel Samos ankommt. Imad schildert aus Sicht des fiktiven Charakters Fouad seine eigene Flucht aus Syrien nach Europa im Jahr 2015. Die im Buch erzählten Nahtod-Erfahrungen und Existenzkrisen hat Imad selbst erlebt. Erst auf dem Meer, dann direkt nach der Ankunft auf dem schmalen unbewohnten Küstenstreifen von Samos und letztlich unter den Zuständen im Aufnahmelager in Vathy. Heute ist es ihm wichtig, seine Erfahrungen von damals, aber auch seine Sichtweisen auf die aktuelle europäische Migrationspolitik zu teilen.

Wie hat sich die Situation auf Samos seitdem entwickelt?

Imad kam in Juli 2015 in Deutschland an. In den ca. acht Jahren seit seiner Überfahrt mit dem Schlauchboot ist auf Samos viel passiert. 

“Schon zu meiner Zeit als Geflüchteter im Camp auf Samos wurden wir dort behandelt, wie Gefängnisinsassen”, erzählt Imad. “Die Art, wie wir hinter Mauern untergebracht waren, von Soldaten bewacht wurden und für die Essensausgaben in Schlangen durch die Gänge geschleust wurden, ließ wenig anderen Interpretationsspielraum.”

Zu Höchstzeiten wohnten im Vathy-Camp bis zu 8000 Menschen, konzipiert war es nur für knapp 650. In informellen Zeltreihen bildete sich nach und nach ein weiteres Camp um das eigentliche, abgeriegelte Lager, das umgangssprachlich als “Dschungel” bekannt wurde. Die Umstände wurden immer weniger haltbar, die Versorgung reichte hinten und vorne nicht, Samos wurde zum Hotspot einer humanitären Katastrophe. 

2021 wurde das Vathy Camp geräumt und geschlossen. Dafür wurde im abgelegenen Landesinneren von Samos das Zervou Camp eröffnet. Nach dem Motto aus den Augen aus dem Sinn feierte das erste “Closed and Controlled Access Camp” (CCAC) der EU seine Premiere. 

Was ist neu im CCAC?

Der Name ist Programm – Das Centre für die Erstaufnahme soll so wenig wie möglich offen sein für Außenstehende und damit auch für Medien, humanitäre Helfer*innen und kritische Beobachter*innen.

Neue Auflagen für humanitäre Organisationen erschweren den Zugang zum Camp und machen ihn fast unmöglich. Medizinische sowie versorgende Hilfsinitiativen konnten ihre Arbeit im neuen Camp in Zervou nur wenig bis gar nicht fortsetzen. Zudem setzen die Behörden auf Isolation: Weit abgelegen von Städten und Dörfern gibt es nur einen Bus, der am Camp vorbei an Orte mit Einkaufsmöglichkeiten fährt. Doch der Bus kostet Geld, 4 Euro pro Ticket. 

Gleichzeitig ist das Essen, das im Camp ausgegeben wird, größtenteils ungenießbar und schon bei der Verteilung schlecht. Platz hat das Camp offiziell für 3.650 Menschen. Doch bereits seit September letzten Jahres ist es überfüllt, was die humanitären Standards weiter sinken lässt.

Dieses neue Camp, das als großer Vorreiter für die geregelte Aufnahme Geflüchteter an den Außengrenzen der EU gilt, missachtet jegliche grundrechtlichen Standards und wird im Schatten der Weltöffentlichkeit unter menschenunwürdigen Bedingungen betrieben. 

Was können wir dagegen tun?

Seit vielen Jahren gibt es auf Samos tolle Organisationen, die den Menschen aus dem Camp einen angenehmeren und würdigen Aufenthalt auf der Insel ermöglichen. So zum Beispiel das Team von Just Action Samos. In ihrem Free Market verteilen die Helfenden Lebensmittelpakete an die Menschen aus dem Camp und achten dabei auf Nachhaltigkeit und Qualität. 

Für viele Menschen, die ohne Besitz, ohne Einnahmen und ohne Gewissheit über ihren weiteren Weg auf der Insel festsitzen, ist Just Action eine Quelle der Sicherheit und des Rückhalts. Zusätzlich zu den Lebensmitteln vergibt Just Action auch Bustickets an Geflüchtete. 

“Für viele, die monatelang hinter Stacheldraht und hohen Mauern festsitzen, ist die eingeschränkte Anbindung an Städte und Dörfer eine weitere mentale und logistische Belastung”, erzählt uns Lene, Gründerin und Leiterin von Just Action Samos.

Die örtliche Abgrenzung des “Gefängniscamps” vom Rest der touristischen Mittelmeerinsel ist von der griechischen Regierung beabsichtigt. 

“Diese systematische Ungerechtigkeit stellen wir durch die regelmäßige Vergabe von Bustickets deshalb auch politisch in Frage”, erklärt Lene. “wir wirken der wachsenden Ausgrenzung mit allen Mitteln, die wir haben, entgegen.”

Wir von LeaveNoOneBehind wünschen uns, dass das unglaubliche Team von Just Action seine Arbeit noch lange weitermachen kann! Auch du kannst die Organisation mit einer kleinen Spende unterstützen. Schon kleine Beträge machen einen großen Unterschied vor Ort!

 

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